Risiko: KGV-Schmelze - von Daniel Haase
Für konservative Anleger gibt es gute Gründe, hochbewertete Aktien grundsätzlich zu meiden. Auf Rendite müssen sie deshalb keineswegs verzichten, im Gegenteil.
IBM und Xerox waren in den 1970er-Jahre als Unternehmen sehr erfolgreich. Xerox konnte seinen Jahresgewinn von 160 auf fast 600 Mio. US-Dollar steigern, IBM den seinen von 800 Mio. auf über 3,3 Mrd. US-Dollar vervielfachen. Die Kursentwicklung der Aktien spiegelte den fundamentalen Trend überhaupt nicht wider. Während die US-Konsumentenpreise um 150% nach oben schossen, standen IBM-Aktionäre am Ende der 12jährigen Inflationsperiode selbst inklusive aller Dividenden kaum besser da als zu Beginn, real waren sie rund 60% ärmer. Xerox-Aktionäre mussten nominal harte Verluste von über 40% (inkl. Dividenden) verkraften, real sogar von fast 80%. Wie passten kräftig wachsende Unternehmensgewinne und miserable Kursentwicklung über einen so langen Zeitraum zusammen?
Abb.1 zeigt die Kursentwicklung verschiedener US-Aktien von Januar 1970 bis Dezember 1981 sowie den US-Konsumentenpreisindex (CPI). Die Anfangswerte wurden auf 100% normiert. Quelle: www.empiria-brief.de
Abb.2 zeigt die KGVs verschiedener US-Aktien um die Jahreswende 1969/70 (blau) und 1981/82 (orange). Quelle: www.empiria-brief.de
KGV-Schmelze trifft Anlegerlieblinge
Abb. 2 liefert die Antwort: Das Abschmelzen der KGVs überkompensierte die vielfach sehr positive Entwicklung der Unternehmensgewinne und besonders betroffen waren eben jene Unternehmen, für die Anleger zu Beginn der Inflationsperiode sehr optimistisch gestimmt und entsprechend bereit waren, so hohe KGVs zu zahlen wie beispielsweise für IBM oder Xerox. Selbst Aktionäre jener Unternehmen, die zu Beginn der Inflationsära vergleichsweise günstig bewertet waren, wie Deere oder Exxon, mussten ebenfalls ein Abschmelzen der KGVs ihrer Titel hinnehmen, so dass die Wertentwicklung ihrer Aktien nicht das volle Ausmaß ihrer Gewinnsteigerungen spiegelten. Allerdings waren die Auswirkungen der Schmelze bei ihnen eher moderat. Ein weiterer Vorteil der niedrigen Start-KGVs bestand darin, dass sowohl mit Deere als auch mit Exxon vom Start weg markant höhere Dividendenrenditen erzielt werden konnten. Diese allein glichen bereits die Inflationsrisiken aus. Bezogen auf ihre 1970er-Ausgangskurse erzielten Aktionäre von Deere und Exxon allein 1982 rund 20% Dividende, die Anteilseigner von Xerox und IBM mussten sich hingegen mit 3% bzw. 5% begnügen. Die bessere Entwicklung günstiger Aktien beschränkt sich jedoch keineswegs nur auf inflationäre Zeiten. Auch in der jüngeren Vergangenheit entwickelten sich günstige US-Aktien deutlich besser als teure.
Abb.3 zeigt für den Zeitraum Januar 2000 bis Dezember 2023 die Wertentwicklung verschiedener Portfolien aus S&P 500 – Aktien. Zum einen den marktkapitalisierten S&P 500 Index inklusive aller Dividenden (schwarze Linie), zum anderen den gleichgewichteten S&P 500 Index inklusive aller Dividenden (gestrichelt schwarze Linie) sowie die Wertentwicklung von fünf jeweils zum Jahreswechsel nach aktuellen KGVs gleichgewichtet zusammengestellten Unterportfolien von jeweils rund 100 S&P 500 Titeln. Quelle: eigene Recherche www.empiria-brief.de
Teure Aktien dominieren die Indizes, günstige Aktien liefern Überrenditen
Abb. 3 zeigt sehr schön den weitgehenden Gleichlauf des S&P 500 Index (schwarze Linie) mit dem Portfolio der 100 nach KGV teuersten S&P 500 – Aktien (rote Linie). Der Gleichlauf ist leicht erklärbar, werden doch teure Aktien in marktkapitalisierten Indizes naturgemäß viel höher gewichtet als günstige Titel. Das mittlere KGV im teuersten S&P 500 – Quintil beträgt aktuell 71, während es im günstigsten knapp unter 10 liegt. Die 100 Konzerne mit den günstigsten Aktien erwirtschaften 28% der Unternehmensgewinne im S&P 500, kommen jedoch nur auf 11% der Marktkapitalisierung. Die 100 Konzerne mit den teuersten Aktien erwirtschaften hingegen nur 8% der Unternehmensgewinne, kommen allerdings auf 24% Indexgewichtung. Diese Konzentration ist ohne Frage ein Warnsignal, auch wenn es natürlich immer auch gewisse Wahrscheinlichkeiten gibt, dass hohe Bewertungen über längere Zeiträume hoch bleiben und mitunter sogar weiter steigen. Alfons Cortés schrieb Anfang Februar in einem Beitrag auf themarket.ch, dass bei Halbleiterwerten eine Blasenbildung begonnen habe. Wenn ich mich richtig erinnere, meinte der legendäre Hedgefondsmanager George Soros einmal, dass er stets investiere, wann immer er eine Blase erkenne, da diese für gewöhnlich viel weiterläuft, als es sich unsere begrenzte Vorstellungskraft erträumen kann.
Gleichwohl zeigt Abb. 3 sehr schön, dass es auf lange Sicht erhebliche Vorteile bringt, sich stärker für jene Aktien zu interessieren, die „Under-loved, Under-owned and Under-Valued“ sind. Die nach KGV mittleren und günstigeren S&P-500-Quintile lieferten seit 2000 Jahresrenditen von über 10%, der S&P 500 selbst wie auch das nach KGV teuerste Quintil kam im gleichen Zeitraum nur auf knapp 7% p.a.
Gleichzeitig weisen jene Quintile mit mittleren und günstigen Bewertungen auch die besseren Risikokennziffern auf. So ist bspw. der Bärenmarkt 2000 bis 2003 fast spurlos an ihnen vorübergezogen. Auch das Inflations- und Zinsschockjahr 2022 haben sie wesentlich besser verkraftet als viele teure Anlegerlieblinge (s. Abb. 3). Weitgehend unbemerkt von den auf wenige, große US-Technologieaktien fokussierten Finanzmedien lieferten die 100 S&P-500-Aktien mit niedrigen KGVs verglichen mit dem S&P 500 mehr Rendite bei zeitgleich geringeren Rücksetzern (s. Abb. 4).
Abb.4 zeigt für den Zeitraum Januar 2022 bis Mitte Februar 2024 die Wertentwicklung (Total Return) wie auch die zwischenzeitlich maximalen Rücksetzer (max. Drawdown) für die KGV-Quintile im S&P 500 wie auch für den Index selbst (gewichtet nach Marktkapitalisierung wie auch gleichgewichtet/equal weighted). Quelle: eigene Recherche www.empiria-brief.de
Konservative Regeln für Konservative Anleger
Meine Vermutung für die kommenden Jahre lautet, dass sich die Inflation als hartnäckiger erweisen dürfte, als derzeit von vielen Marktteilnehmern erwartet. Wenn ich damit richtig liege, dann dürfte die moderate 2022er-KGV-Schmelze nicht das Ende, sondern nur der Auftakt von einem noch lange anhaltenden Trend hin zu niedrigeren Markt-KGVs gewesen sein. Die Inflationsgeschichte der 1970er-Jahre mag sich vielleicht nicht wiederholen, aber – um es mit Mark Twain zu sagen – ein paar Reime wird es vermutlich geben. Die gegenläufige 2023er-Entwicklung könnte sich daher als eine nur temporäre Gegenbewegung entpuppen. Doch selbst, wenn ich mit dieser Vermutung daneben liegen sollte, verfügen fundamental günstig bewertete Aktien im Vergleich zu ihren „Over-loved, Over-owned and Over-Valued“ – Pendants langfristig über das attraktivere Chance-Risiko-Verhältnis.
Gerade jene eher konservativen Anleger, die auch im Aktienportfolio der Begrenzung von Risiken Vorrang einräumen, sollten bei der Aktienauswahl ein Regelwerk bevorzugen, dass ihre Wünsche auf jeder Entscheidungsebene berücksichtigt. Bei fundamentalen Bewertungen bedeutet dies meines Erachtens: günstig ist besser als teuer. Beim Kriterium historische Volatilität ist schwankungsarm nahezu immer besser als überdurchschnittliche Volatilität und in Bezug auf das Momentum ist der Ausschluss von Verlierern in den meisten Fällen ebenfalls vorteilhaft.
Wenn ich diese zugegebenermaßen noch recht grobkörnigen Kriterien derzeit beispielsweise auf die Aktien im STOXX Global 1800 Index anwende, dann befinden sich über 200 Titel in allen drei Kriterien in der attraktiveren Hälfte der Indexmitgliederliste. Es gibt also reichlich Auswahl. Auch aus Österreich, der Schweiz und Deutschland sind ein paar bekannte Namen darunter:
Tabelle zeigt 17 Aktien aus Österreich, der Schweiz und Deutschland, die aktuell sowohl nach ihrer historischen Volatilität (6M), ihrem Momentum (6M) als auch ihrem aktuellen KGV in der „günstigeren“ Hälfte des STOXX Global 1800 liegen (Percentil-Werte unter 50) und damit für konservative Aktienstrategien interessant sein könnten. Wichtig: Es handelt sich keineswegs um eine Empfehlung zum Kauf, Halten oder Verkauf von Wertpapieren, sondern ausschließlich um eine regelbasiert zusammengestellte Aktienliste, die von interessierten Lesern bei Bedarf in eigener Verantwortung als Ausgangsinformation für weitere, tiefergehende Analysen genutzt werden kann. Quelle: eigene Recherche www.empiria-brief.de (Stand: Februar 2024)
Abb.5 zeigt das jeweils mittlere KGV für jedes KGV-Quintil im STOXX Global 1800 an. Die Daten offenbaren, dass es derzeit selbst unter den großen internationalen Aktien hunderte mit moderaten bis günstigen Bewertungskennziffern gibt. Quelle: eigene Recherche www.empiria-brief.de
Fazit
Je höher Aktien fundamental bewertet sind, umso größer das Enttäuschungsrisiko, falls dereinst der Wind an den Märkten und/oder bei den betreffenden Unternehmen dreht. Der Einbruch der KGVs in den inflationären 1970er-Jahren sollte als Warnung verstanden werden, dass hoch bewertete Aktien selbst bei guter Unternehmensentwicklung massive Verluste erleiden können. Aktien mit mittlerer oder günstigen Bewertungskennziffern bieten hingegen langfristig vielfach höhere Renditechancen bei geringeren Risiken. Gerade für konservative Langfristanleger liegt damit eine Entscheidung für günstige bzw. gegen teure Titel auf der Hand. Ein Blick auf die Bewertungsdifferenzen der Aktien im STOXX Global 1800 zeigt, dass es international reichlich günstige Auswahlmöglichkeiten für einen solchen eher konservativen Ansatz gibt.
Daniel Haase ist seit 1990 an den Märkten aktiv. Die Hausse in den Neunzigerjahren hat er laut eigener Aussage «mit der dafür notwendigen, großen Portion Naivität» mitgenommen, Verluste nach dem Platzen der Blase durch «unverschämt viel Glück» vermeiden können.
Sein Wunsch, nie wieder vom Glück abhängig zu sein, trieb ihn vor 23 Jahren zur systematischen Marktanalyse. Das von ihm von 2002 bis 2006 entwickelte Trendanalyse-Modell wie auch seine Untersuchungen zur regelbasierten Aktienauswahl wurden von der Vereinigung Technischer Analysten Deutschlands 2009 und 2019 mit VTAD Awards ausgezeichnet.
Seit September 2023 ist Daniel Haase als Fondsmanager beim Düsseldorfer Vermögensverwalter WBS Hünicke für mehrere quantitative Anlagestrategien privater und institutioneller Investoren verantwortlich. Zuvor war er acht Jahre Asset Manager bei einem Hamburger Vermögensverwalter, davon fünf Jahre als Vorstand. Seine monatlichen Marktanalysen werden im Empiria-Brief veröffentlicht.